Die anthroposophische Heilpädagogik spricht von "seelenpflege bedürftigen" Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen: So überwindet sie die oft negativ bewerteten Bezeichnungen "geistig behindert", "praktisch bildbar" oder "verhaltensgestört" und es werden mehrere Ebenen im Verständnis von Behinderung deutlich: Konventionelle oder diskriminierende Vorstellungen vom Menschsein werden überwunden. Dabei bemüht sich die anthroposophische Heilpädagogik um mehr Wertschätzung des individuellen Menschen mit seinen spezifischen Begabungen und Beeinträchtigungen innerhalb eines Lebenszusammenhangs, den er immer mit anderen Menschen teilt.
Von seiner eigenen Lebensgestaltung, seinen Werten und Zielen ist es abhängig, ob der einzelne Mensch — beeinträchtigt oder nicht — seinen Platz in einer Gemeinschaft findet. "Normalität" ist darum, wie Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, es ausdrückte, nichts anderes als ein "Kriterium von Philistern": Also ein überholtes Denkmuster, des konservativen Bürgertums früherer Jahrhunderte. Entscheidend ist aber, welche sozialen Veränderungen und Gestaltungen dabei helfen, dieses veraltete Verständnis von Behinderung zu überwinden.
Die Bezeichnung "seelenpflege-bedürftig" weist auf der individuellen körperlich-seelischen Ebene darauf hin, dass jeder Mensch nicht nur entwicklungsbedürftig, sondern auch entwicklungsfähig ist. Unsere mehr oder weniger offensichtlichen individuellen Merkmale treten bei Menschen mit Assistenzbedarf nur stärker ins öffentliche Bewusstsein. Auf diese individuellen "Konstitutionsmerkmale" antworten diagnostische und therapeutische Zuwendung mit heilpädagogischen und Therapien als Ausgleichsmöglichkeit.
In Menschen, die wir als "behindert" bezeichnen, treten uns oft Persönlichkeiten entgegen, die uns mit ihrer Lebensintensität, Willenskraft und Sozialfähigkeit tief beeindrucken. Sie machen uns bewusst, dass der Mensch nicht nur sein Körper ist: Er besitzt einen Körper, mit dem er sich auseinandersetzt und den er sich mehr oder minder zu eigen machen kann, wie es ein Musiker mit seinen Instrument tut. Unsere eigene Lebenslage ist also Basis einer individuellen Sinnorientierung und Ausgangspunkt für unsere biographische Aufgabenstellung, aber nichts, was wir als gegeben und unveränderlich hinnehmen müssen.